|
Diese Seite gehört zu FraLi.net, dem Netzauftritt von Frank Merla. |
Aus Spiel wurde schnell Ernst„Ein Fohlen, das im Kuhstall geboren wird, ist noch lange kein Kalb.” Zugegeben, ich war kein kleines Kind mehr, als meine Mutter diesen Spruch prägte. Der Satz war Teil einer Antwort auf meine Frage, weshalb bei verwandtschaftlichen Besuchen immer wieder die alten Geschichten aus der verlorenen Heimat Ostpreußen aufgewärmt wurden. Als sie mich an einem Dreiundzwanzigsten zur Welt brachte, war der Zweite Weltkrieg gerade fünf Jahre her. Sie hatte die Hebamme gefragt, ob sie das erhoffte zweite Kind, womöglich ein Mädchen, noch am selben Tage gebären würde, weil sie es gut fände, wenn das Baby am fünften Todestag ihres Vaters, also meines Großvaters, zur Welt käme. Die Geburt gelang noch vor Anbruch des Vierundzwanzigsten. Allerdings wurde es kein Mädchen, sondern ein zweiter Junge, meine Wenigkeit. Keine zwei Jahre später kam dann doch noch das Wunschkind dazu, meine Schwester. Meine Mutter schwor stets, alle ihre Kinder gleich zu lieben. Allerdings muss es für sie nicht leicht gewesen sein, ihre Rolle als Mutter auszufüllen, da ihr Ehemann, mein Vater, zur See fuhr und ihre verwitwete Mutter mit im Haushalt lebte. Meine Mutter war das jüngste von sechs Kindern. Ihre Schwestern lebten nach der Vertreibung aus Ostpreußen in Westdeutschland verstreut und ihre beiden Brüder waren im Krieg gefallen. Meine Rumpffamilie lebte in einem kleinen Dorf in Schleswig-Holstein und war bei einem Bauern untergebracht. Als meine Mutter mich auf dem Arm über den Hof trug und den Sohn des Bauern traf, koste er mich mit den Worten “Na, mien lütten Schietbüdel". Im zarten Alter von zwei Jahren wusste ich, dass der plattdeutsche Ausdruck “Schiet” Scheiße bedeutet. Aber was ein Büdel sein sollte, war mir nicht klar und ich fragte meine Mutter danach. Nach der Erläuterung, es habe sich um eine wohlmeinende Äußerung gehandelt, war ich doch geneigt, mich beleidigt zu fühlen. Meine Mutter empfahl mir, bei passender Gelegenheit dem Bauernsohn den Ausdruck zurückzugeben. Immer wenn meine Mutter mit mir über den Hof ging, hielt ich Ausschau nach dem vermeintlichen Übeltäter und wartete auf die Wiederholung der mutmaßlichen Beleidigung. Eines schönen Tages war es dann soweit und ich entgegnete ihm: “Selber Schietbüdel!” Erst stutzte er, dann bog er sich vor Lachen. Das hat mich wieder versöhnt. Im Erwachsenenalter ist mir der Büdel wieder begegnet, und zwar in der Form als Putzbüdel. Der heißt auf Hochdeutsch: Friseur. Die Eltern meines Vaters zogen bald aus demselben Dorf, in dem viele Mitglieder meiner Familie nach dem Treck gelandet waren, aus Schleswig-Holstein in das Nachbarland Niedersachsen. Ihr erstgeborener Sohn, mein Onkel, hatte ihnen ein Wochenendhaus auf einem Waldgrundstück zur Miete besorgt, das am nordwestlichen Rand der Lüneburger Heide steht. An Wochenenden mussten meine Großeltern zusammenrücken, wenn die Eigentümer ihr Haus nutzen wollten. Wenn mein Vater meine Mutter und meinen älteren Bruder auf Seereisen mitnahm, wurde ich bei seinen verrenteten Eltern “in der Heide” geparkt, während meine Schwester von der Mutter meiner Mutter versorgt wurde. Das war noch in der Zeit vor dem Umzug nach Hamburg so und auch danach. Meine Großmutter lebte bis zu unserer Pubertät in unserer Familie. Während mein Vater zur See fuhr, kaufte meine Mutter ein kleines Häuschen, das von zwei Personen bewohnt worden war, in einer Reichsheimstättensiedlung Hamburgs. Mit Unterstützung von “Paputzi”, einem ebenfalls Vertriebenen Litauen, der aus demselben Dorf in Schleswig-Holstein wie wir kamen und auch mit seiner Frau “Mamutzi” nach Hamburg in unsere Nähe gezogen war, wurde das Haus um einen Anbau und ein Dach erweitert. Ich erinnere mich, dass das Flachdach abgetragen wurde und ich im Wohnzimmer in den Himmel blicken konnte. Kurz darauf wurde ich wieder in die Heide zu meinen Großeltern verschickt, bis die Decke über dem Wohnzimmer fertiggestellt war. In dem Heidehaus gab es weder elektrischen Strom, noch fließendes Wasser. Elektrischer Strom: Fehlanzeige. Bei Dunkelheit gab es günstigstenfalls Licht von Petroleumlampen. Ein Röhrenradio wurde mit einem Akkumulator betrieben. Das Wasser zum Trinken, Waschen und Kochen stammte aus Grundwasser. Dafür gab es eine handbetriebene Pumpe auf dem Hof. Manchmal durfte auch ich pumpen, was für mich Knirps recht mühsam war. Notdurfte konnten in einem kleinen Extrahäuschen, dem Plumpsklo, erledigt werden. Toilettenpapier bestand aus zerschnittenen ausgelesenen Tageszeitungen. Mein Vater hatte meinem Großvater ausrangierte Bretter besorgt, damit dieser sich eine Werkstatt bauen konnte. Zunächst zog er mit einer Kneifzange alte rostige Nägel aus den Brettern, um sie mit einem Hammer auf einem Stein gerade zu klopfen. Bei den Arbeiten durfte ich helfen und ich glaube, dass ich damals den Grundstein für ein gewisses handwerkliches Geschick bekommen habe. Lebensmittel und wieder aufgeladene Akkumulatoren besorgte mein Großvater per Fahrrad in ca. 4 km entfernten Geschäften. Zu den Lebensmitteln zählte zu meinem Leidwesen auch Lebertran. Kinder meiner Kohorte galten damals als mit Vitaminen unterversorgt. Das wurde mit einer täglichen Gabe von Lebertran vermeintlich behoben. Nur widerwillig schluckte ich eine Portion, weil mir ein Stück Würfelzucker versprochen wurde, das ich “hernach” im Mund zergehen lassen konnte, um den Ekel zu vertreiben, den das ölige Zeug in mir verursacht hatte. Umso mehr mochte ich frisch gemolkene, unverarbeitete, noch kuhwarme Milch, die ich mit einer Aluminiumkanne auf der Kuhweide unweit des Hauses meiner Großeltern einkaufen durfte. Ich spazierte mit meinem Großvater und dem Hund meines Onkels durch den Wald bis an die Autobahn nach Bremen. Dort brachte ich meine aus Hamburg mitgebrachten Modellbestimmungskenntnisse von Pkw an den Mann und entwickelte Sehnsucht, auch irgendwann einmal Auto fahren zu dürfen. Im Bett liegend machte ich Trockenübungen mit gedachten Pedalen und Schaltknüppel. Tatsächlich habe ich mit 18 Jahren in den Sommerferien enthusiastisch meinen Pkw-Führerschein gemacht. Auch heute fahre ich noch gern Auto, lasse es aber aus Umweltschutzgründen meistens stehen und nutze am liebsten mein Fahrrad. Und ich lebe nun dauerhaft in der Lüneburger Heide. Ich bin in die Nähe meines damaligen “Parkplatzes” gezogen, stolpere wieder über Wurzelholz, das aus den durch häufige Begehung verdichteten Trampelpfaden ragt. So stille ich die in den Aufenthalten bei meinen Großeltern durch Schilderungen über Heideflächen entstandene Sehnsucht nach Calluna vulgaris und Wacholderbäumen. In der Heide habe ich auch anderweitig in die Zukunft projiziert: Ich fand eine in Keimung begriffene Eichel und durfte sie auf dem Waldgrundstück in der Heide einpflanzen. Den Zusammenhang mit unserem Familiennamen hatte ich schon damals verstanden und vermutlich auch deshalb die Erlaubnis bekommen, die Eiche wachsen zu lassen. Über die kleine Eiche habe ich einen Text verfasst, der auch in diese Anthologie passen würde, aber bereits in meinem Internetauftritt www.frali.net veröffentlicht ist. In Hamburg ging es oftmals nicht so beschaulich zu. Mein älterer Bruder neigte nicht selten dazu, mich ihm zu unterwerfen. Andere Spielkameraden hatte ich nur ein bis zwei in der Siedlung, in der Heide war gar niemand, der gleichaltrig war. Einen Kindergarten gab es in unserem Stadtteil. Aber davon erfuhr ich erst viel später in der Schulzeit. Sozial völlig unterbelichtet wurde ich eingeschult, als jüngster und kleinster in der Klasse. Sehr schnell bildete sich eine Hackordnung aus, in der ich keine Chancen hatte. Nicht selten wurde ich auf dem Heimweg von der Schule in die Reichsheimstättensiedlung von den anderen Kindern, die denselben Weg hatten wie ich, verprügelt. Vermutlich, weil es bei mir nichts abzuziehen gab, ich weiß bis heute nicht, warum die übermächtigen Schläger Freude an Grausamkeiten hatten. Möglicherweise wurde mir so die Neigung ausgetrieben, mich an Mehrheiten zu orientieren. Mein Vater, der inzwischen eine nautische Stellung an Land innehatte, erfuhr wenig von meinem Schicksal. Er hielt mich an, mich durchzusetzen, gab aber keine Tipps, wie man das schaffen könnte. Meine Mutter ordnete sich auch eher unter und konnte mir ebenfalls nicht helfen. Beide Eltern waren während des Kriegs Soldat, bzw. Befehlsempfängerin gewesen und hatten vermutlich keinen Schimmer von Artikel 1 des Grundgesetzes, das erst am 23. Mai 1949 in Kraft trat. Erschwerend kam für mich hinzu, dass ich schielte und eine Brille tragen musste, die bei eventuellen Prügeleien nicht zu Bruch gehen durfte. Wegen der Augenprobleme konnte ich für meine Fußballmannschaft kaum brauchbare Beiträge erbringen. So blieb ich von vornherein Außenseiter und wurde latent vielfach für Opferrollen bestimmt. Mir ist nicht viel mehr eingefallen, als mich durchs Leben zu lavieren. Dabei moralischen Ansprüchen zu genügen, wie nicht zu lügen, keine Ausreden zu erfinden, begonnene Projekte zu Ende zu führen, auch wenn unterwegs die Motivation schwand, war nicht ganz einfach. Vermutlich hat mir das einen gewisse Intelligenz eingebracht, die allerdings im Widerspruch stand zu der Intelligenz, die Gleichaltrige an den Tag legten. Eine wichtigere Rolle als Intelligenz spielte der Besitz oder Nichtbesitz von Geld. Da Sparsamkeit eine wichtige Tugend war, hortete ich meine Groschen und fand Gefallen an Träumen, was ich mir schönes Wertvolles einst würde leisten können, wenn ich genug zusammengespart hätte. Der Höhepunkt war ein Tonbandgerät, TK 23 Automatic von Grundig für 450 D-Mark. Noch heute habe ich Freude an technischen Dingen. Viel wichtiger war und ist mir von Wunscherfüllung zu träumen, als sie auszukosten. Durch die heutige sofortige Befriedigung von Konsumwünschen durch Internetnutzung wird der Erwerb von Sachen schnell schal und kann zu Konsumsucht führen. Sparsamkeit war und ist für mich eine wichtige Tugend. So hob ich gerne Dinge auf, die andere Menschen nicht mehr haben wollten und mich als Müllentsorger benutzten. Sofern die Sachen noch den Nimbus hatten, „das kann man noch brauchen”, hortete ich sie. Noch heute ist mein Keller voll mit Aufhebseln, an die ich Erinnerungen knüpfe, die ich ungern vergessen möchte. Ich arbeite gedanklich daran, sie irgendwann loslassen zu können. Anziehsachen spielen für mich auch eine besondere Rolle: Die Sachen, aus denen mein Bruder herausgewachsen war, wurden nicht weggegeben, sondern mir. Mein Bruder war eitel genug, seine Sachen zu schonen, während ich dafür bekannt war, die meinen unpfleglich zu behandeln - warum wohl? Meine Schwester brauchte meine Sachen nicht aufzutragen. Sie bekam neue Kleider. Meine Mutter versuchte meine Protesthaltung aufzulösen, indem sie versuchte, mich zum Shoppen (damals nannte man das noch nicht so) zu überreden, auch wenn eine nötige Ausstattung mit Neuware nicht anstand. Zum Glück musste ich abgelegte Schuhe meines Bruders nicht auftragen. Allerdings erinnere ich mich an Röntgengeräte in Schuhgeschäften, in denen nachgeschaut wurde, ob die zu kaufenden Schuhe auch richtig an die Füße passten. Damals hatte man noch keine Ahnung, dass Röntgenstrahlen schädlich sein können. Man freute sich an dem “Fortschritt”, dass solche Technik eingesetzt werden konnte. Noch heute scheint der Begriff Fortschritt ausschließlich positiv konnotiert zu sein. Den Fortschritt von Umsatz, der uns durch CO2-schädliche Produktion den Klimawandel beschert, finde ich überhaupt nicht positiv. Ich wünsche mir die früher gepflegten Tugenden von Nachhaltigkeit und Genügsamkeit zurück. Als weitere Tugend galt Unterordnung unter hierarchische Strukturen, was mit zunehmendem Alter immer wichtiger wurde. So wurde jedem Kind unserer Familie ein Stück Garten zugewiesen, das jeden Sonnabend von “Unkraut” zu befreien war. Mein Vater sah Gartenarbeit als Ausgleich zu seiner beruflichen Tätigkeit an, für meine Mutter war die Arbeit im Garten Fortsetzung ihrer durch den zweiten Weltkrieg unterbrochenen Entfaltung ihrer eigenen bäuerlichen Entwicklung. Meine Eltern betrachteten Gartenarbeit als Erziehungsziel und Bereicherung für die kindliche Entwicklung. Für mich war Gartenarbeit eine lästige Pflicht und verhasst. Der Garten als Spielplatz machte mir selten Freude. Ich mied den Garten, wenn mein Bruder mich drangsalierte, oder ich dort gar keine Spielkameraden hatte und ich nicht recht wusste, wie ich mich beschäftigen sollte. So stromerte ich allein durch die Siedlung, zuerst zu Fuß, später mit Roller und dann - endlich - per Fahrrad. In meiner Pubertät kam ich vom Regen in die Traufe. Statt mich an meinen Eltern zu reiben, kam ich in ein Schülerheim, weil mein Vater mir das Erreichen des Abiturs zutraute. Der Übergang von der Mittelschule aufs Gymnasium war in Hamburg nicht möglich. So musste ich nach Niedersachsen ausweichen. Im Schülerheim ging es paramilitärisch zu: Es gab Stubendienst, Waschraumdienst, Tischdienst, Telefondienst und Gartendienst. In der Mittelstufe war man den Jungen aus der Oberstufe untergeordnet. Wenn man einen Dienst verrichten musste, kam es immer wieder vor, sich vom Senior vom Dienst zurechtweisen zu lassen wie ein einfacher Soldat von einem Unteroffizier. Schulische Hausaufgaben musste man zu festgesetzten Zeiten und unter Aufsicht der Erzieherin bzw. des Erziehers erledigen. Das habe ich auch als Drill erlebt. Das Leben im Schülerheim war eine gute Vorübung für 18 Monate Grundwehrdienst in der Bundeswehr. Ständig dem Willen mächtigerer Menschen unterworfen zu sein erzeugte in mir einen tiefen Friedenswunsch und das Volkslied „Die Gedanken sind frei” sang ich mit Inbrunst mit. Noch heute bin ich stolz, dass es mir im zweiten Anlauf gelungen ist, nach Ableistung der Wehrpflicht die Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer zu erreichen. |